Über den unterschiedlichen Umgang mit der Rente
Wenn in den USA jemand verkündet, dass er oder sie in Rente geht, stehen die Cheerleader Schlange. Man bekommt den Eindruck, die Gesellschaft feiert einen für den Eintritt in die schönste Phase des Lebens. Wenn in Deutschland jemand in Rente geht, beneidet man ihn zwar auch irgendwie dafür, dass er oder sie nicht mehr arbeiten muss, aber der Jubel ist verhaltener. Der gesellschaftliche Duktus wird eher von der Abschiedsphase im Leben geprägt: "Muss halt jetzt sein, geniesse es solange es geht."
So mein Eindruck. Ich lese seit Wochen sehr intensiv das Internet zum Thema leer und bin in den Sozialen Medien in zahlreichen Gruppen unterwegs mit Namen wie: Retirement for women, Rock retirement, Planning retirement, Retirement in sight, Just retired... alles englischsprachige Gruppen mit starker US Beteiligung. Deutsche Gruppen gibt es zwar auch, sie werden aber selten für wirkliche Diskussionen genutzt, sondern sind gefüllt mit Witzen und Kontaktanzeigen.
Gründe für die Unterschiede?
Natürlich kann ich hier nur vermuten. Meine Eindrücke wiedergeben. In den USA wird vieles deutlich intensiver kommerzialisiert. Also auch das Rentenalter. Wenn ich damit Geld verdienen will, muss es irgendwie auch Spaß machen. So gibt es seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts spezielle Resorts für Ü50 Menschen. Dort gibt es eigene Häuser und Apartments, Pools, Golfplätze und vieles mehr. Die Belohnung für ein hartes Arbeitsleben. Diese Resorts sind mittlerweile in den USA durchaus gängig und beliebt. Teilweise werden sehr spezielle Zielgruppen bedient, beispielsweise gibt es ein Resort für Postboten. In dem Hunde nicht erlaubt sind, zuviel wird sich über Hundebisse im Berufsleben ausgetauscht. In Deutschland habe ich noch kein einziges echtes Resort Ü50 entdeckt. Es gibt Genossenschaften, die gemeinsam fürs Alter bauen, es gibt natürlich Alters- und Pflegeheime, aber ein Resort mit Wellness und Golfen? Fehlanzeige.
Hier ein Werbevideo von 1962 für das erste Sun City Resort.
Diesselbe Wahrnehmung habe ich, wenn es um Begleitung in die Phase des Alters geht. Ein Bereich der mich als Coach natürlich interessiert. Das amerikanische Internet ist randvoll mit Rentenberatung. Das hat natürlich zum einen damit zu tun, dass US-Bürger:innen ihre Rente viel mehr kapitalbasiert finanzieren müssen und dafür Finanzberater:innen brauchen. Aber auch die nicht-finanziellen Aspekte werden von zig Coaches abgedeckt, es gibt gleich mehrere Ausbildungen für Retirement-Coaches.
In Deutschland gibt es eine Handvoll Coaches, die meist auch noch andere Themen bedienen oder bereits selbst im Rentenalter, das Coaching als Hobby betreiben und happy sind, wenn sie im Monat ein oder zwei Coachees begleiten dürfen. Die, die davon leben wollen/müssen, bieten Beratungen in Unternehmen an. Dieser Bereich wird immerhin von großen Unternehmen angeboten, mein Eindruck ist, dass diese Seminare eher standardisiert ablaufen, aber sicher bin ich mir nicht.
Die Unterschiede im realen Leben
Ich lese ganz viel die Berichte in diversen Gruppen, von Menschen, die dann tatsächlich in Rente gegangen sind. Mehr aus den USA, hier in Deutschland höre ich einfach vielen Menschen aus der Zielgruppe in normalen Gesprächen zu. Tatsächlich erscheinen die praktischen Unterschiede im realen Leben nicht sonderlich groß. Auch in den USA gibt es Menschen, die mit dem Rentenalter, dem Abschied von der alltäglichen Routine und der Anerkennung im Erwerbsleben, sehr große Schwierigkeiten haben und erstmal durch´s Leben stolpern. Umgekehrt gibt es in Deutschland auch Menschen, die das Rentenleben als eine wunderbare Zeit wahrnehmen, in der sie endlich Zeit haben, ihren eigenen Interessen nachzugehen. Die negativen sind in den USA leiser, die positiven in Deutschland. Das mag auch insgesamt bei beiden Ländern so zutreffen. Und macht tatsächlich mit mir was. Ich lese viel aus den USA und bin auch hier und da bei einigen Seminaren dort live dabei. Da kommt Freude auf. Dann unterhalte ich mich in Deutschland mit Menschen und stoße eher auf Unverständnis früher in Rente gehen zu wollen. Also zumindest bei denen, die gerne arbeiten. Bei denen, die nicht gerne arbeiten, kommt zwar Neid auf. Aber selten wirklich gute Gedanken, was sie machen wollen, wenn sie dann nicht mehr arbeiten. Es ist also wenn eine "Weg-von" Motivation und nicht so sehr eine "Hin-zu". Was okay ist, aber eben manchmal unterschiedlich.
In meiner Wahrnehmung ergibt sich daraus auch ein Unterschied, zu welchem Zeitpunkt man den Weg in die erwerbslose Zeit antritt. In den USA ist dieser Zeitpunkt ausgesprochen individuell. Ich lese immer wieder von Menschen, die bereits mit 52 aufhören zu arbeiten, fühle mich mit Mitte 50 in einem frühen Mittelfeld und ab 60 ist wirklich jedes Alter vertreten. Auch widerum hohe Altersgruppen, die länger erwerbstätig sind, entweder weil sie es wollen, oder aber sicherlich auch viele, die es schlicht müssen. In Deutschland ist 63 früh, 66 aktuell normal und 67 wird die Zukunftsnorm. Ja, es gibt Menschen, die länger arbeiten, das sind arme Schweine. Und früher geht man nicht in Rente, dass ist die absolute Minderheit, die das tut. Die sich dann auch nicht wirklich Rentner:in nennen dürfen, sondern Privatiere, im Sabbatjahr oder vielleicht auch einfach nur arbeitslos. Ich kenne einige Menschen, die weit vor der 63 nicht mehr wirklich arbeiten, aber sie sind in Deutschland nicht sichtbar. Vielleicht weil wir dafür keine Worte oder keine Kategorien haben. Vielleicht auch, weil wir ein Land der Angestellten sind, in denen der Staat und der/die Arbeitgeber:in vorgibt, wann wir aufhören dürfen.